Lehrveranstaltung: 1.07.062 Soziologische Theorie

Moderne Vergesellschaftung kann als Prozess beschrieben werden, in dem Individuum und Gesellschaft auseinandertreten. Was im Alltagsverständnis häufig als persönliche Befreiung von sozialen Zwängen oder Erwartungen beschrieben wird, erscheint in soziologischer Perspektive als Zwei-Seiten-Form, in der soziale Strukturveränderungen den einzelnen Gesellschaftsmitgliedern vielfältige Inklusionsmöglichkeiten eröffnen - die jedoch zugleich auch eine Zumutung darstellen: individuell erfordern sie aktive und manchmal auch überfordernde Entscheidungskompetenzen, gesellschaftlich fordern sie die Frage nach verbindenden und verbindlichen Gemeinsamkeiten heraus. Daraus folgen gegenläufige Dynamiken, die in der soziologischen Theorie aus unterschiedlichen Perspektiven angegangen werden: einerseits wird, häufig unter Rückbezug auf Durkheims Vorstellung der Anomie, die zunehmende Bindungslosigkeit der Einzelnen und die Übersteigerung von Selbstverwirklichungsidealen als Gefahr für die soziale Ordnung gesehen. Andererseits wird mit Blick auf Phänomene der Entfremdung (Marx) oder Disziplinierung (Foucault) die einschränkende Wirkung von sozialen Strukturen (gerade vor dem Hintergrund unterschiedlicher Betroffenheit in verschiedenen sozialen Gruppen) thematisiert.
Das Seminar stellt verschiedene theoretisch und gegenwartsdiagnostische Positionen zu diesem Kernthema moderner Gesellschaftstheorie vor.

Literatur zur Einführung:
Andreas Reckwitz (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten. Berlin: Suhrkamp
Markus Schroer (1999): Das Individuum der Gesellschaft: Synchrone und diachrone Theorieperspektiven. Frankfurt/M.: Suhrkamp